17. Dezember 2024

Im Rahmen des Deutschunterrichts haben wir, die Klasse M26a, das Werk Der Sandmann von E.T.A. Hoffmann analysiert, um uns besser mit der Epoche der Romantik vertraut zu machen. Dabei standen die werkimmanenten und werkübergreifenden Deutungsmöglichkeiten im Fokus. Das Ziel der Lektion bestand darin, die methodische Analyse eines literarischen Werks zu erlernen. 

Im Zentrum von Nathanaels psychologischen Problemen steht sein Kindheitstrauma, das durch die ambivalente Beziehung zu zwei Vaterfiguren – seinem leiblichen Vater und Coppelius - als Imago-Vater – geprägt ist. Nathanael erlebt Coppelius als bedrohliche Autoritätsperson, die mit Zerstörung und Strafe assoziiert wird. Insbesondere der Kastrationskomplex, wie ihn Sigmund Freud beschreibt, ist hier zentral: Coppelius wird zur Verkörperung einer Macht, die Nathanaels Ich bedroht, symbolisiert durch die Furcht vor dem Verlust der Augen. Das Sehorgan spielt in der Erzählung eine doppelte Rolle. Einerseits repräsentieren sie Nathanaels Verbindung zur Realität, andererseits werden sie durch Coppelius’ bedrohliche Worte – „Augen her!“(Sandmann, S.13) – zu einem Symbol der Angst vor Identitätsverlust. Der Verlust der Augen steht für eine tiefe psychologische Entwurzelung: Nathanael erlebt die äussere Welt als bedrohlich und unsicher, was ihn dazu treibt, sich zunehmend in eine innere Fantasiewelt zurückzuziehen. Dieses Trauma hinterlässt eine Lücke in seinem Selbstbild, die er später durch narzisstische Idealisierungen zu kompensieren versucht. 

Traumatische Erlebnisse wie jene in Nathanaels Kindheit führen oft dazu, dass das Individuum Schwierigkeiten hat, gesunde, reziproke Beziehungen aufzubauen. Bei Nathanael äussert sich dies in seiner Beziehung zu Olympia, einer künstlichen Puppe, die keine echte Person ist, sondern lediglich eine Projektion seines inneren Ideals von Weiblichkeit. 


Die Erzählung zeigt anhand der Hauptfigur Nathanael, wie frühkindliche Traumata die Identitätsbildung beeinträchtigen und zu einer Flucht in illusionäre, narzisstische Beziehungen führen können. Dieser Text fokussiert darauf, diesen Prozess aus psychologischer Sicht nachzuvollziehen und zu erklären, wie die Traumata in narzisstische Liebe übergehen lassen.  

Olympia verkörpert Nathanaels Flucht in die narzisstische Liebe. Sie ist für ihn perfekt, weil sie keine Eigenständigkeit besitzt und ihn nicht mit den Herausforderungen einer realen Beziehung konfrontiert. Diese Illusion einer idealisierten Liebe erlaubt es Nathanael, seine innere Verletzlichkeit und Angst vor echter Nähe zu umgehen. Statt sich mit den Unsicherheiten einer Beziehung auseinanderzusetzen, schafft er sich ein kontrollierbares Objekt, das seine eigenen Wünsche und Ideale widerspiegelt. Freud beschreibt diese Form der Liebe als „narzisstische Objektwahl“. Das geliebte Objekt wird nicht als eigenständige Person wahrgenommen, sondern als Erweiterung des eigenen Selbst. Für Nathanael ist Olympia weniger ein Partner als vielmehr eine Bestätigung seines idealisierten Bildes von Liebe, das er aufgrund seines Traumas entwickelt hat. 

Ein zentraler Mechanismus, der Traumata mit narzisstischer Liebe verbindet, ist die zunehmende Entfremdung von der Realität. Nathanael hat durch sein Kindheitstrauma gelernt, die äussere Welt als gefährlich und unkontrollierbar wahrzunehmen. Diese Erfahrung treibt ihn in einen Zustand, den Freud als „primären Narzissmus“ beschreibt: eine psychische Regression, bei der das Individuum die äussere Welt als Erweiterung des eigenen Selbst interpretiert. Olympia ist die perfekte Verkörperung dieser Entfremdung. Sie ist nicht real, sondern eine Konstruktion, die Nathanaels innere Welt widerspiegelt. Seine Beziehung zu ihr ist eine Flucht vor der Komplexität und Unsicherheit, die echte Beziehungen mit sich bringen. Indem er sie idealisiert, bewahrt Nathanael eine Illusion von Kontrolle und vermeidet die Konfrontation mit seinem eigenen beschädigten Selbstbild. 

Trauma und narzisstische Liebe sind oft durch den Wunsch nach Kontrolle miteinander verknüpft. Nathanaels frühkindliche Erfahrung der Machtlosigkeit – symbolisiert durch Coppelius’ Bedrohung – hat bei ihm eine tiefe Angst vor Kontrollverlust hinterlassen. Diese Angst äussert sich in seinem Bedürfnis, Beziehungen zu gestalten, in denen er die Kontrolle vollständig behält. Olympia bietet ihm diese Möglichkeit, da sie als Puppe weder Widerstand noch Eigenständigkeit zeigt. Nathanael projiziert seine eigenen Ideale auf sie, ohne dass diese hinterfragt oder herausgefordert werden. Dies zeigt den psychologischen Mechanismus der Projektion, bei dem innere Konflikte auf äussere Objekte übertragen werden, um sie scheinbar zu lösen. Nathanaels Liebe zu Olympia ist damit weniger eine echte Beziehung als vielmehr ein Versuch, die Fragmentierung seines eigenen Selbst zu heilen. 

Nathanaels tragisches Schicksal in Der Sandmann illustriert, wie tiefgreifende Traumata die psychische Entwicklung und Beziehungsfähigkeit eines Menschen beeinflussen können. Sein Kindheitstrauma führt zu einer Identitätskrise, die ihn unfähig macht, authentische Beziehungen einzugehen. Stattdessen flüchtet er sich in eine narzisstische Liebe, die ihm die Illusion von Sicherheit und Kontrolle gibt. 

Die narzisstische Liebe ist nicht nur eine Folge von Selbstverliebtheit, sondern oft auf tief verwurzelten Ängsten und Traumata basiert. Nathanaels Geschichte verdeutlicht, wie solche Mechanismen in einem Kreislauf aus Projektion, Entfremdung und Idealisierung münden, der letztlich die Realität und die Möglichkeit echter Nähe zerstört. 


Metatext


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